Alina Pieper:
Herr Kroll, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit nehmen. Der jüngste EU-China-Gipfel in Peking war hochspannend, aber auch konfliktgeladen. Starten wir mit dem Offensichtlichen: Das Handelsdefizit der EU gegenüber China beträgt derzeit rund 305 Milliarden Euro. Glauben Sie, dass die aktuellen Maßnahmen der EU – De-Risking, Global Gateway – das Machtverhältnis verändern können?
Andreas Kroll:
Ehrlich gesagt: kurzfristig nein. Das Handelsdefizit ist nicht über Nacht entstanden. Europa importiert in großem Umfang chinesische Waren, vor allem Maschinen, Batterien, Photovoltaik-Module und Elektrofahrzeuge. Die EU versucht über „De-Risking“ Abhängigkeiten zu reduzieren, aber das ist ein langfristiger Prozess. Global Gateway – das europäische Pendant zur „Belt and Road Initiative“ – ist ein Ansatz, um alternative Märkte zu erschließen. Aber: Die Finanzkraft und Geschwindigkeit Chinas sind nach wie vor deutlich höher. Die nächsten fünf Jahre werden zeigen, ob Europa strategisch konsequent bleibt oder ob wirtschaftliche Interessen das Konzept verwässern.
Alina Pieper:
Die EU hat China aufgefordert, seinen Einfluss auf Russland zu nutzen. Wie realistisch ist es, dass Peking hier einlenkt?
Andreas Kroll:
Sehr unrealistisch. China profitiert geopolitisch von Russlands Schwäche und ökonomisch von günstigen Energieimporten. Moskau liefert Rohstoffe und Öl zu Sonderkonditionen – für China ein strategischer Jackpot. Wenn Peking Moskau fallen lässt, verliert es einen wichtigen Partner im globalen Machtspiel gegen die USA. Deshalb wird China rhetorisch auf Frieden setzen, aber faktisch nichts ändern.
Alina Pieper:
Präsident Xi sprach davon, Europa müsse die „richtige strategische Wahl“ treffen. Ist das diplomatische Floskeln – oder steckt Druck dahinter?
Andreas Kroll:
Das ist kein leeres Wort, sondern ein klares Signal: China warnt Europa vor einer engen Anbindung an die USA. Xi sagt: „Bleibt neutral – oder zahlt den Preis.“ Druckmittel? Handelsbarrieren, Exportkontrollen bei Schlüsselrohstoffen und – nicht zu unterschätzen – das Instrument der Überkapazitäten. China kann gezielt Preise drücken, um europäische Produzenten aus dem Markt zu drängen.
Alina Pieper:
Stichwort Rohstoffe: Die EU begrüßte Fortschritte bei den Exportlizenzen für Seltene Erden. Trotzdem bleibt Skepsis. Wie verwundbar ist Europa wirklich?
Andreas Kroll:
Extrem verwundbar. 98 % aller Seltenen Erden werden in China veredelt. Selbst wenn wir in Europa Minen eröffnen, dauert es zehn Jahre, bis sie produktiv sind. Im Ernstfall könnten chinesische Exportstopps in Wochen ganze Industrien lahmlegen – von E-Autos bis zur Rüstungsproduktion. Strategische Rohstoffreserven und Zollfreilager sind daher kein „Nice to Have“, sondern eine Überlebensfrage.
Alina Pieper:
Kann die EU diesen Hebel ausgleichen?
Andreas Kroll:
Kurzfristig kaum. Mittel- bis langfristig muss Europa massiv in alternative Lieferketten investieren – Afrika, Südamerika, Australien. Aber selbst dann bleiben wir abhängig von Chinas Veredelungskapazitäten. Was helfen kann, sind digitale Transparenzplattformen und physische Lager in Europa – wie sie einige Unternehmen bereits umsetzen. Aber das ist ein Wettlauf gegen die Zeit.
Alina Pieper:
Wie sehen Sie die Zukunft: De-Risking oder De-Coupling?
Andreas Kroll:
De-Coupling ist illusorisch. China ist in vielen Wertschöpfungsketten unverzichtbar. Realistisch ist selektives De-Risking: Europa wird in kritischen Bereichen wie Halbleitern, KI und Batterien Alternativen suchen. Aber selbst 2030 wird China dominierend bleiben – vor allem, wenn es um Schlüsselrohstoffe und die Produktion von Zukunftstechnologien geht.
Alina Pieper:
Es gibt Stimmen, die von einem drohenden Handelskrieg sprechen – speziell wegen E-Autos und grüner Technologien. Teilen Sie diese Einschätzung?
Andreas Kroll:
Ja, die Gefahr ist real. Europa prüft Strafzölle auf chinesische Elektroautos. China könnte im Gegenzug den Export von Materialien für Batterien und Solarzellen einschränken. Das wäre ein massiver Schlag für die Energiewende in Europa. Ein Handelskrieg ist ein Lose-Lose-Spiel – aber politischer Druck macht ihn wahrscheinlicher.
Alina Pieper:
Abschließend: Wenn Sie eine Prognose wagen – wo stehen die EU-China-Beziehungen in fünf Jahren?
Andreas Kroll:
Wir sehen eine kalte Partnerschaft: wirtschaftlich vernetzt, politisch entfremdet. Europa wird gezwungen sein, in Rohstoffe und Lieferketten massiv zu investieren. Wer heute klug handelt, sichert sich strategische Ressourcen und Positionen – wer abwartet, zahlt morgen den Preis.